Die Familie im Steinbruch
Schon von weitem liegt Kalksteinstaub in der Luft, alle Pflanzen am Weg mit einer weißen Schicht überzogen, erschöpfte Arbeiter am Strassenrand, viele LKW auf dem Weg oder soll es eine Strasse sein? Rechts und links wird Kalkstein abgebaut, die berühmten „coral blocks“, mit der hier alle Häuser gebaut werden. Knochenarbeit für erwachsene Männer. Ich weiß, irgendwo nicht weit, ist das Meer, aber alles um mich herum ist wie die Vorhölle und ich fürchte mich vor dem Augenblick, wo ich aus dem Auto aussteigen muss. Und hier soll eine Familie leben?
Ich erlebe seit 17 Jahren bei Familienbesuchen so einiges, viel Armut, familiäre Gewalt, verworrene Verhältnisse und immer leiden die Kinder. Aber wenigstens gibt es Bäume, Gras, Tiere, irgendwas, an dem das Auge sich ausruhen kann. Hier tun mir sofort die Augen weh, als ich das Auto mit den getönten Scheiben verlasse. Man wird von diesem gleißenden Weiß fast schneeblind, der Staub legt sich auf Nase, Augen, Lunge – auch nicht ungefährlich.
Und hier lebt sie also, die Familie von Evans, einem 10jährigen Buben, der täglich 8km Schulweg in Kauf nimmt, einfach weil er es nicht mehr ausgehalten hat, nicht lernen zu können. Und er ist Klassenbester. Er steht um 5 Uhr auf und ist um 8 Uhr in der Schule, das Gleiche abends zurück. Und er hält das durch seit Jahren. Wie groß muss der Wunsch sein, nein, kein Wunsch mehr, da hat jemand ein Ziel ganz fest vor Augen. Unglaublich für solch ein Kind.
Wir steigen aus und 6 Kinder kommen uns entgegen, dazu das Elternpaar, einen Säugling im Arm. Alle Kinder freundlich, aktiv, aber dennoch irgendwie mit der Umgebung verwachsen, keine Farbe in den Augen, zugedeckt mit Staub. Dazu ein kleines Steinhaus, als wir später hineingehen – da ist nicht. Und wenn ich nichts sage, dann meine ich das so. Eine Matte am Boden, fertig. Wo kocht die Familie, was spielen die Kinder, alles hier ist im Grunde menschenfeindlich. Sie besitzen nur das T-Shirt, das sie tragen, keine Spielsachen, nichts.
Wir versuchen bei diesem Besuch für Evans eine Lösung zu finden, wie wir ihm diesen unglaublichen Schulweg abkürzen können, Pastorin Riziki, die Schulleiterin, würde ihm erlauben, in ihrem Zuhause zu schlafen (die Frau besitzt selbst nichts als eine Matratze), wir kaufen ihm ein Fahrrad, Montag bis Freitag abends bei ihr, dann heimradeln.
Und ja, eine Lösung wäre das. Er freut sich, aber doch nicht so wirklich. Die Freude kommt nicht in seinen Augen an. Weil es eben nur eine Lösung für ihn ist, nicht für seine Geschwister.
Was also tun. Wir reden mit dem Vater. Michael vor allem, von Mann zu Mann. Wir werden einen Raum mieten in Tezo, das kostet ungefähr 10 Euro monatlich (falls der Papa hier sein Versprechen bricht, daran wird es nicht scheitern, dass wir es übernehmen). Und dann können 4 der Kinder in die Schule (drei sind noch zu klein). Betten werden angeschafft, zwei der beiden anderen Kinder haben sofort Paten gefunden, nur Amos sucht noch.
Und Evans wird sein Fahrrad dennoch bekommen. Er ist mein Held. Er hat nicht nur für sich selbst bewiesen, was Zielstrebigkeit heißt, er hat auch für seine Geschwister die Tür zur Bildung aufgemacht.
Gabriela Vonwald
Eine bewegende Familiengeschichte. Ein solches Leben kann man sich in Europa kaum vorstellen.